Robert Musil: Essays ~ Kapitel 1. Fragen der Zeit Politik in Österreich (1913)

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Robert Musil 1880 – 1942

Man denkt bei diesem Begriff zu einseitig an die Schwierigkeit der Nationalitätenfrage. Denn die – obgleich eine Schwierigkeit – ist längst eine Bequemlichkeit geworden; über einen ernsten Anlaß hinaus ein uneingestandenes Ausweichen und Verweilen. Wie bei hohlen Liebenden, die immer neue Trennungen und Widerstände überwinden, weil sie schon ahnen, wie wenig sie am ersten Tag der Hindernislosigkeit noch miteinander anzufangen wissen werden. Wie Leidenschaft überhaupt nur ein Vorwand ist, keine Gefühle zu haben. Wenn die große Abrechnung beendet sein wird, wird es ein Glück sein, daß die schlechten Manieren, die man inzwischen angenommen hat, auch aus nichtigen Anlässen noch den Verwahrlosungsschein des Idealismus zu schaffen wissen werden. Aber dahinter wird die Leere inneren Lebens schwanken, wie die Öde im Magen des Alkoholikers.

Es gibt wenig Länder, die so leidenschaftlich Politik treiben, und keines, wo Politik bei ähnlicher Leidenschaft so gleichgültig bleibt wie in diesem; Leidenschaft als Vorwand. Nach außen ist alles so sehr parlamentarisch, daß mehr Leute totgeschossen werden als anderswo, und es stehen alle Räder alle Augenblicke wegen der nächstbesten Parteidrehung still; hohe Beamte, Generäle, Ratgeber der Krone dürfen beschimpft werden, man kann Vorgesetzten mit einer Drohung vor dem Parlament bange machen, verdient Geld mit Hilfe der Politik, ohrfeigt einander. Aber alles ist halb wie eine Konvention, ein Spiel nach Übereinkommen. Die Furcht, die man erregt, die Macht, die man ausübt, die Ehren, die man auf sich sammelt, bleiben – trotzdem sie in allen wirklichen und gemeinhin als wichtig geltenden Beziehungen völlig echt sind – in der Seele unwahr, spukhaft, geglaubt und respektiert, aber nicht gefühlt. Man nimmt sie soweit ernst, daß man ihretwillen verarmt, doch es scheint, daß man das ganze Leben bis zu solchem Grade nach etwas einrichtet, hier nicht das Letzte zu bedeuten. Es könnte ein großer, wenn auch erst negativer Idealismus darin gesehen werden. Das Tun legt diese Österreicher nie ganz auf sein Niveau fest. Es ist nicht an ihre Religiosität zu glauben, nicht an ihre Untertanenkindlichkeit oder ihre Sorgen; sie warten dahinter; sie haben die passive Phantasie unausgefüllter Räume und gestatten eifersüchtig einem Menschen alles, nur nicht den seelisch so präjudizierenden Anspruch auf den Ernst seiner Arbeit. Wogegen der Deutsche im Verhältnis zu seinen Idealen jenen unerträglich lieben Frauen gleicht, die plitschtreu wie ein nasses Schwimmkleid an ihren Gatten kleben.

Weiterlesen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/essays-6938/1

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