Unangetaster Blick – Unverfalschte Sicht
Für Europäer gibt es viele Arten, den südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas zu betrachten. Die erste und meist unmittelbare, ist die des tragischen Afrikas, die uns dauernd über die Medien erreicht.
Ob wir wollen oder nicht, die Bilder bleiben in unserer Erinnerung haften: die verkohlten Holzrahmen der Kirche von Eldoret, in der bei Aufständen nach Wahlen in Kenia dreihundert Menschen verbrannten; die Zeltlager voll weinender Kinder im weiten, trockenen Flachland von Darfour; Charles Taylors unbewegte Gesichtszüge während seines Prozesses in Liberia, konfrontiert mit den erschütternden Zeugnissen seiner eigenen Grausamkeiten; das Grinsen des südafrikanischen Präsidenten Zuma, angeklagt wegen Korruption; und auch die Verbissenheit der letzten weißen Bauern, die sich mit ihren schwarzen Angestellten gegen die Willkür Mugabes bewaffnen – und dies alles sind lediglich Ereignisse der letzten paar Monate. Hört es denn nie auf?
Nach Ruanda, Uganda, Angola, Elfenbeinküste, Kongo, Äthiopien, nach all den anderen Ländern und ihren Staats- und Regierungschefs, die wir alle am liebsten sofort wieder vergessen würden? Hass, Völkermorde, Korruption, Blutdiamanten, Frauen- und Mädchenbeschneidung, Symbole im Überfluss. Afrika, der tragische Kontinent ohne Lösung, sagen Pessimisten. Hier gehen sogar die besten Absichten in die Brüche, da schwache Staatsmänner sich noch immer hinter ihrer kolonialen Vergangenheit verbergen, die perfekte Rechtfertigung für heutige Missstände, Rivalität zwischen Nachbarsstaaten und Bürokratie ohne Ende. Diesem Afrika entfliehen verzweifelte Auswanderer in baufälligen Boten, auf der Suche nach dem europäischen Traum. Aus der Sicht des Pessimisten kann Afrika bloß tragisch sein.
Auf der anderen Seite hingegen gibt ein anderes, magisches Afrika, das Afrika der atemberaubenden Nationalparke mit galoppierenden Antilopen und unangetasteten Küsten, wohin der europäische Tourist immer öfter seine abenteuerlichen Reisen macht. Das Afrika der Reiseprospekte, wo junge Männer und Frauen schön und dienstbereit sind, wo die Dorfältesten in ihrer Weisheit der Natur nahe sind – denn in Afrika stand ja die Wiege der ganzen Menschheit. Ein Kontinent voll ergreifender Musik und farbiger Kleidung, die so viele Europäer entzückt und wo das Leben oft so viel wirklicher und ehrlicher erscheint als in der europäischen Massengesellschaft. Die Liebhaber Afrikas weisen uns auf die unberührte Natur und Kultur die noch erschlossen werden können, die jungfräulichen Strände von Mozambique, die großen Seen wo uns Abenteuer erwarten! Taucht ein in die Freundlichkeit der Dörfer von Dogon wo die schönste Kunst der Welt entstanden ist! Für sie ist Afrika der letzte unentdeckte, einzigartige Ort in dieser übervollen Welt, der noch nicht durch Plastik und Hamburger erobert ist. Hände weg von Afrika, sagen sie sogar, denn bloß eine Entwicklung von Innen heraus kann seine Ursprünglichkeit retten.
Drittes Afrika
Dann gibt es noch ein drittes Afrika, nüchtern und geschäftliche betrachtet: das Afrika, das in 2007, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, anhaltend positiv berichtet über unvergleichliches ökonomisches Wachstum von 5% – und kapitale wirtschaftliche Investitionen. Ein Rekord an Investitionen: bereits in 2007 über fünf Milliarden US Dollars. Dies ist das Afrika der ungehörten Möglichkeiten in Bezug auf Rohstoffe, wovon die neuen Staatsoberhäupter von China und Brasilien gerne Gebrauch machen. Gold, Kobalt, Kupfer, und, wenigstens in Zentralafrika, beinahe unerschöpfliche Vorräte Süßwasser und Wasserkraft von Flüssen und Seen. Die Optimisten behaupten, Afrika sei weder als beklagenswerter Kontinent, wo Entwicklungshilfe in einem schwarzen Loch verschwindet und bloß Abhängigkeit schafft, noch als Freiluftmuseum zu betrachten, jedoch als Weltteil voller Möglichkeiten und Dynamik. In nicht all zu langer Zeit sollte Afrika ein wirtschaftlicher Tiger werden. Der Kontinent sollte seinen wirtschaftlich Rückstand in Bezug auf Asien aufholen, so wie die makroökonomische Gesetzmäßigkeit von Jan Romein über den bremsenden Vorsprung besagt.
Über Afrika zirkulieren mehr widersprüchliche Klischees und Meinungen, als über alle anderen Kontinente, sowohl von Seiten der Europäer als auch von Seiten der Afrikaner selbst. Keines dieser Klischees ist ganz falsch, alle sind jedoch Folgerungen aus subjektivem Blickpunkt und wishful thinking. Afrika, gerade wegen seiner Ungreifbarkeit, kann uns nicht unberührt lassen und kein einziger Europäer kommt darum herum, seine Haltung im Bezug auf diesen Erdteil zu definieren. Erzählungen und Wünsche, Vorurteile und eigene Geschichte werden auf Afrika projektiert. Es gibt jedoch nicht bloß ein Afrika, es gibt zahllose Afrikas.
Viel, sehr viel ist über diesen Kontinent geschrieben, in Versuchen, die afrikanische Wirklichkeit in Worte zu fassen. Durch Entdeckungsreisende wie H.M. Stanley (The darkest Africa), Reporter wie R. Kapuscinski (mit seinen eindrücklichen Titeln The Emperor, The Shadow of the Sun, Another Day of Life), Schriftsteller wie V.S. Naipaul (In a Free State, A Bend in the River) oder A. Malouf, dessen Léon l’Africain einige prächtige Passagen aus Cosmographia de Affrica (die erste systematische Beschreibung eines Teils von Afrika) enthalten und durch modernere Autoren, wie die Belgierin Lieve Joris und den Politologen Robert Kaplan. Alle haben ihre eigene, voreingenommene Sichtweise, auch wenn sie danach streben, ein vollständiges Bild von Afrika zu beschreiben. Von allen Reisenden und Autoren hat jedoch André Gide (1869-1951) diesen Prozess von Beobachten, Standortbestimmung und die Entfaltung von Erkenntnissen am besten und sehr beeindruckend festgelegt. Seine Tagebücher aus dem Kongo sind Pflichtlektüre für jeden, der lernen möchte, wie er seinen Blickwinkel bestimmen kann um frei von Vorurteilen engagiert zu bleiben. Gides Weise zu Beobachten gilt noch heute, trotz dem Abstandes zwischen den zwei Tagebüchern aus den zwanziger Jahren, die berichten von einem tief kolonialen, ungerechten Afrika und unserer heutigen Zeit. Was er schreibt ist nicht nur von historischer Bedeutung. Doch ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass die beschriebenen Greuel vor gar nicht langer Zeit statt fanden. Seine Tagebücher sind das ergreifende Zeugnis eines Mannes, der, mit seiner eigenen Geschichte, seinen eigenen Sorgen und seiner relativ beschränkten Perspektive, durch das ehrliche Aufzeigen seiner Beobachtungen, einen Impuls gegeben hat, das kollektive Bild Afrikas zu überprüfen.
Heart of Darkness
André Gide ist bereits weit über fünfzig als sein Jugendtraum in Erfüllung geht, eine Reise nach Zentralafrika. Der eigentliche Anlass, um sich in 1925 einzuschiffen, ist sehr persönlich. Auf dieser Reise will er vor allem seine Ruhe und Lebenslust zurück finden. Die Falschmünzer ist gerade vollendet und hat ihn emotional erschöpft. Die Kritik der konservativen Katholiken auf Gide als Person ist auf seinem Höhepunkt und er hat mehr denn je das Bedürfnis an Erholung, Zerstreuung, einem Heilmittel für seine Apathie. „Bloß der Kongo kann mich noch retten“. Er wird durch einen Freund eingeladen, Marcel Coppet, der kurz zuvor als Gouverneur von Tschad ernannt ist. Ein zweiter Grund für die Reise ist ein informeller Auftrag der Behörden, sich den Fortschritten der Zivilisierung zu vergewissern. Soziale Problematik hatte ihn bis dann nicht wirklich interessiert, obwohl er dadurch, dass er Joseph Conrads Heart of Darkness las und übersetzte auf die negativen Seiten des Kolonisations-prozesses gewiesen wurde.
In Voyage au Congo, dem ersten Teil seines Tagebuches, beschreibt er den Beginn seiner Reise per Boot nach Matadi, an der Küste des damaligen Belgischen Kongos, bis zu Fort Lamy in Tschad, im Herzen des französischen äquatorialen Afrikas. Die Rückreise von Fort Lamy bis Douala an der kamerunischen Küste ist unter dem Titel Retour du Chad absonderlich herausgegeben. Zusammen bilden sie eines der längsten Werke Gides. Er beginnt mit persönlichen Erfahrungen, beschreibt jedoch schon bald ausführlich die Lebensumstände, Hygiene, Landwirtschaft, Krankenhäuser und die Kultur der einheimischen Bevölkerung. Das Tagebuch ist ein beinahe täglich geschriebene, ununterbrochene Erzählung, wobei er Ereignisse unterwegs als Basis für verschiedene Themen braucht: die Schicksale seiner Diener, und vor allem, seine wachsende Erkenntnis der tragischen Bedeutung der Anwesenheit der Franzosen in Afrika. Abgesehen von der Zufügung von Fußnoten hat er den ursprünglichen Text nach seiner Rückkehr in Frankreich nicht mehr bearbeitet, er wollte die Spontaneität seiner Arbeit nicht gefährden. Da Gide von Tag zu Tag schrieb, konnte er den Effekt seiner Tagebücher nicht einschätzen. Das Resultat ist umso vernichtender: eine sorgfältige Suche nach den wirklichen Umständen in den französischen Kolonien und die dahinterliegenden Ursachen der Missstände.
Wenn ich da bin
André Gide wird auf seiner afrikanischen Reise begleitet durch seinen viel jüngeren Freund, den Filmmacher Marc Allégret. Ihre Reise dauert beinahe ein ganzes Jahr. Sie bewegen sich in ruhigem Tempo, zum Teil per Boot, per Auto, manchmal sogar zu Fuß, gefolgt durch eine lange Reihe Träger. „Wir haben keine Eile“, schreibt Gide, „denn wir wollen ja den üblichen Weg verlassen, sehen was man normalerweise nicht sieht“. Auf dem Frachter, der ihn nach Afrika bringt, ist seine ständige Antwort auf die Frage der anderen Passagiere, was er denn in Afrika zu suchen habe: „Das weiß ich erst, wenn ich da bin“.
Als erstes beschreibt er seine Eindrücke der überwältigenden Natur. Die Vielfalt an Pflanzen und Insekten, vor allem an Schmetterlingen, fasziniert ihn. Sorgfältig notiert er Witterungsverhältnisse, hauptsächlich die Wechsel zwischen Sonne und Regen beschäftigen ihn: „Das unermessliche Licht eines verschleierten Himmels, zu vergleichen mit dem Pianissimo eines vielköpfigen Orchesters”. Währenddessen liest er Meisterwerke der französischen Literatur wieder. Doch sobald die Reisegesellschaft in den Urwald zieht, beginnt er, die Menschen um ihn herum zu beobachten. Über Klima und Unannehmlichkeiten der Reise klagt Gide selten.
Auch Gides erster Eindruck von Afrika ist magisch: im Kongo erfährt er die gleiche sprichwörtliche Renaissance als in Nordafrika. Rückblickend notiert er über die erste Reise, die er im Oktober 1893 mit vierundzwanzig Jahren nach Algerien machte, wobei er seine eigene Homosexualität kennen lernte: „Ich werde wiedergeboren mit einem neuen Wesen, unter einem neuen Himmel und inmitten vollkommen erneuter Dinge“. In Si le grain meurt, das unter anderem durch diese Erkundungen entsteht, spricht er ständig von einer festlichen Stimmung, die er in Dörfern antrifft und von der Natur, die bei seiner Ankunft aufblüht. Auch wenn Gide auf seine Art ein Schwärmer ist, so verfällt er jedoch nie einem naiven Idealismus über die „edlen Wilden“.
Bereits in Dakar, wo das Boot nach Matadi kurz anlegte, schrieb er: „Wir folgen einer langen Allee, die uns aus der französischen Stadt führt. Es ist eine Freude, mich inmitten von Eingeborenen auf zu halten.“ Dieses, für seine Zeit, außergewöhnliche Fehlen jeglicher Vorurteile, macht ihn zu einem auserlesenen Beobachter der Ereignisse in den Kolonien. Er hört Beschwerden an, verpflegt den Abszess seines Übersetzers und geht freundschaftlich mit seinen Dienern um. Er bedauert die miserable Qualität des Unterrichtswesens und den Lehrmittel, die nicht an die lokalen Umstände angepasst sind. Er bewundert die perfekte Architektur der Hütten der M’baiki und hofft, dass sich kein übereifriger Beamter berufen fühlt, diesen Baustil wegen hygienischen Prinzipien zu vernichten.
Voyage au Congo
Im Laufe der Monate öffnen sich Gides Augen für die sozialen Missstände in Zentral Afrika. Auch darin fällt auf, dass seine Wahrnehmung durch seine Erfahrungen in Nordafrika bereits geschärft ist. In Algier ist ihm bereits aufgefallen, wie Straßenkinder Nahrung miteinander teilen, „Nicht etwa ein Fisch, bloß die Gräte“. An einem regnerischen Tag sieht er „freudlose Kinder, barfuß“. Voyage au Congo, das er schrieb als er doppelt so alt war als damals in Algier, verwebt die algerischen Erlebnisse weiter. In Zentral Afrika ist er weniger introvertiert, auch weniger auf sinnliche Erfahrungen oder erotische Abenteuer aus. Seine Beobachtungen sind systematisch, werden langsam analytisch: er sucht nach den Ursachen der Armut, die er sieht.
Die einfache Freude des Naturbeobachters wird durch ein dauerhaftes, emotionelles Interesse ersetzt, als er einem Gerichtsverfahren gegen einen jungen Beamten beiwohnt, angeklagt wegen Gewaltakten gegen die schwarze Bevölkerung. Er schreibt: „Je weniger intelligent der Weiße, umso dümmer denkt er, sei der Schwarze“. Die Ernennung von jungen, unerfahrenen Beamten auf abgelegenen Außenposten ohne jegliche Führung, sorgte für Probleme – so stellt er im Verlauf seiner Reise immer wieder fest. Langsam verändert sein ehrliches Interesse für das Leben der einheimischen Bevölkerung in ebenso ehrliche Empörung über die Ausschreitungen des kolonialen Regimes und tiefes Mitleid für die Opfer.
Immer mehr wird sein unbestimmter Auftrag – über den Stand der Zivilisierung zu berichten – eine unmögliche Aufgabe. Wie kann er denn die Bevölkerung fragen ohne ihre Sprache zu sprechen, und wie muss er interpretieren was er sieht? Er beobachtet, wie Körbe voll Maniok, dem Hauptnahrunsgmittel, als Bezahlung von Steuern auf die Regierungsposten gebracht werden, während er Gerüchte über eine Hungersnot im Inland hört. Wer kann Wahrheit von Erdichtung unterscheiden?
Manchmal, wenn sein Auftrag ihm zu viel wird, flüchtet Gide doch wieder in Naturbeschreibungen. Der Fluss Kongo ist ein „Paradies perlmuttfarbiger Wasserflächen, langsam treibendem Schilf und niedrigen, dunklen Tunnels“ in undurchdringbarem Urwald. Es ist, als offenbaren sich die Landschaften des Kongo vor siebzig Jahren, noch so lebendig wie der Autor es vor sich sah. Im Laufe der Monate jedoch wächst der Kontrast zwischen Landschaftsbetrachtungen und Bestürzung über die Ereignisse in de Kolonien. Das Verhalten seiner Landsleute weckt auch seinen ästhetischen Abscheu. In Yaoundé, auf dem Rückweg aus Tschad, schreibt er: „Diese Hotel! Selbst das abscheulichste Lager ist zu bevorzugen. Und diese Weißen! Hässlichkeit, Dummheit, so vulgär (…). Soviel Unverschämtheit ist befremdend, gerade für mich, der sich ständig darum bemüht, niemanden in seinen Gedanken, seiner Ruhe, seinem Gebet zu stören (…)”. Und er nimmt sich vor, einen Éloge de la Délicatesse zu schreiben.
Grande Compagnies Concessionaires
Die französischen Gebiete Afrikas wurden durch sogenannte Grandes Compagnies Concessionanaires, Handelsunternehmen, dominiert; Firmen, die nicht ausschließlich mit der Gewinnung von Rohstoffen sowie Palmöl, Kautschuk und Baumwolle beschäftigt waren, sondern die ihnen zugewiesenen Gebiete auch so gut wie möglich verwalteten. Verbindungen waren sehr schwierig, und die französische Regierung baute gerne auf diese Betriebe, die die zurückgebliebene Bevölkerung zufrieden hielt. Dass außer dem Dulden einiger wenigen Missionsstellen beinahe nichts getan wurde, was zu der Entwicklung der Bevölkerung beitrug, ließ die Regierung durchgehen. Außerdem sorgten die Compagnies auch für bedeutende Erträge, die dem französischen Staat zukamen.
Diese Handelsunternehmen, vor allem die Compagnie Forestière, scheuten sich nicht, die grausamsten Methoden anzuwenden um die einheimische Bevölkerung zum Anbau von Kautschuk zu zwingen. Gide entdeckte zu seinem Entsetzen die furchtbaren Maßnahmen die getroffen wurden, wenn ein Dorf sich weigerte, vom Landbau zur Erhaltung der eignen Bevölkerung abzusehen und sich ganz dem Anbau von Kautschuk zu widmen. Er besucht in Boda, nahe bei Bangui, Dörfer, wo alle Männer verschwunden sind. Mit Entsetzen sieht er, wie Frauen im strömenden Regen, mit ihren Kindern in durchweichten Tüchern auf ihrem Rücken, zu Schwerarbeit gezwungen werden und wie Bewohner gefoltert werden. In einem anderen Gebiet entdeckt er einen Verschlag, wo Dutzende von Kindersklaven eingeschlossen sind. Anderswo sieht er, wie fünfzehn Frauen, manche mit ihren Kindern noch an der Brust, wie menschliches Vieh mit einem Seil um den Hals weggeführt werden: die Befehlshaber haben Geiseln nötig, um die Männer zur Arbeit zu zwingen.
Die unverhohlene Art dieser Ausbeutung hat unauslöschliche Folgen für Gide. Fast widerwillig merkt er, dass Schweigen unmöglich geworden ist und dass er zu eindeutiger Stellungnahme gezwungen wird. „Als ich meinen Auftrag bekam, wusste ich nicht wozu ich mich verpflichtete, was meine Rolle sein und wie ich von Nutzen sein konnte. Jetzt weiß ich es, und ich beginne zu glauben, dass ich nicht für nichts gekommen bin.“ Von diesem Moment an dokumentiert er was er unterwegs gesehen hat. Seine einzige Waffe ist das geschriebene Wort. Am 30. Oktober 1925, gut vier Monate nachdem er an der afrikanischen Küste an Land gegangen ist, schreibt Gide dem Gouverneur einen berüchtigten Brief worin er die „abscheuliche Wahrheit“ meldet, nämliche seine Befunde in den französischen Kolonien. In seinem Tagebuch notiert er: „unmöglich um einschlafen zu können… eine ungeheure Trauer hat mich befangen: jetzt weiß ich Dinge, die ich nicht gutheißen kann. Welcher Dämon hat mich bloß nach Afrika getrieben?“ Kurz darauf schickt er dem Hauptquartier der Compagnie Forestière und der französischen Regierung gleich lautende Briefe.
Anklage
Natürlich weiß André Gide, dass seine Anklage gegen die Handelsunternehmen als schädlichen Angriff auf den Kolonialismus aufgefasst werden kann. Er hat jedoch die Bereitschaft, dieses Risiko zu tragen, denn: „Es reicht nicht mehr, mir immer wieder erzählen zu lassen, die Eingeborenen seien vor der Ankunft der Franzosen noch unglücklicher gewesen. Wir dürfen uns der Verantwortung, die wir auf uns genommen haben, nicht entziehen.“ Dadurch verurteilt er nicht das kolonialistische System, ausschließlich seine Ausschreitungen. Er bleibt davon überzeugt, dass der afrikanischen Bevölkerung durch ein rechtschaffenes Regime geholfen werden kann, und führt die Verantwortung zurück auf die Politiker in Paris.
Die Erstausgabe von Voyage au Congo löst einen Skandal aus, der bis lange nach dem Erscheinen des zweiten Teiles, Retour du Chad, in 1928, anhält. Beinahe alle Zeitungen übernehmen Gides Anklage. Ihm wiederum wird Sensationslust unterstellt, ein Hauptartikel in Débats spricht von der „Ausbeutung einer Anklage“. Die Compagnie Forestière mischt sich in die öffentliche Debatte und behauptet, Gides Anklage sei eine Parodie, und dass er „dank seiner abenteuerlichen Fantasie die Gesellschaft als kapitalistisches Monster beschreibt“.
Gides Antwort ist sorgfältig und beherrscht. Er greift nicht nur die Compagnie Forestière an, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auch auf das System der enormen Konzessionen durch die kolonialen Behörden. Sein Widerstand richtet sich nicht ausschließlich gegen die Grausamkeiten gegenüber der afrikanischen Bevölkerung, sondern gegen das ganze Spektrum an Mitteln, die in den Kolonien eingesetzt werden: Zwangsarbeit, Kindersklaverei, unzugängliche Disziplin, Willkür, das Verweigern von ärztlicher Sorge und Schulung. Am meisten empört ihn die totale Geringschätzung von Individuen und Kulturen. In 1928 wird die Affäre Kongo durch die Volksvertretung in Paris ausführlich besprochen. Zehn Jahre später, in 1937, wird in Genf eine internationale Konferenz gehalten über Zwangsarbeit, was wir heute Menschenrechte nennen würden, wobei Voyage au Congo als wichtige Informationsquelle gebraucht wurde.
Wendepunkt
Für Gide selber ist dies ein wichtiger Wendepunkt: das in seiner Arbeit so wichtige Motiv der Selbstentwicklung bekommt eine neue Dimension, denn er verbindet es nun mit Begriffen wie Menschlichkeit und Solidarität. In Zentralafrika entdeckt er seine Verbundenheit mit der Menschheit, ungeachtet Rasse und Kultur. Die Kongoreise bildet die Grundlage für seine definitive Abrechnung mit der herrschenden Moral seiner Zeit. Im Kongo verschiebt sich Gides Arbeit und wird er von Naturbetrachter zu einem engagierten Chroniker der sozialen Gerechtigkeit. Diese Erfahrungen bilden die Basis seines späteren Interesses für den Kommunismus und die Sowjetunion, ein paar Jahre später. In seinen Tagebüchern weist nichts darauf hin, dass sein Engagement zu einer bedauernswerten, wenn auch vorübergehender, Blindheit für die Grausamkeiten des Sowjetregimes führte. Es wird noch fünf Jahre dauern, bis er sich zum echten Kommunismus bekehrt, oder besser gesagt, bis er die Illusion hat, alle Kommunisten seien wie er und seine salonkommunistischen Freunde wie André Malraux und Jef Last. In seiner kommunistischen Periode, von 1931 bis 1935, erscheint kein einziges literarisches Werk. Als er 1936 zur Beerdigung von Maxim Gorki nach Moskau eingeladen wird, kommt er ernüchtert zurück. Die rohe Wirklichkeit des Kommunismus und der totale Mangel an persönlicher Freiheit haben seine Ideale für immer zerstört.
Dank seiner unverfälschten Sicht vermeidet Gide die Heimtücken des Fatalismus oder Zynismus, simplifizierten Rassismus oder Antikolonialismus. Sein unvoreingenommenes Mitgefühl, gefolgt durch eine kompromisslose Anklage, scheint noch immer die einzig haltbare Stellungnahme gegenüber den Wahnzuständen die er auf seiner Reise sah. Voyage au Congo und Retour du Chad sind Musterbeispiele für die Kraft sorgfältiger und aufrichtiger Beobachtungen von einem, der, sich selber zum Trotz, dazu gezwungen wird, seine eigenen Vorurteile und Sorgen zur Seite zu schieben. Es wäre zu einfach, seine Haltung gemessen an den heutigen Normen, als paternalistisch zu bezeichnen: mit seinen erleuchteten Ideen ist Gide seiner Zeit weit voraus. Außerdem sind die Tagebücher seine ersten Arbeiten, worin er seine literarischen Fähigkeiten für ein Thema, das sein Gewissen ihm eingibt, einsetzt.
Subtiler und komplexer
Die kolonialen Wahnzustände von damals bestehen zum Glück schon lange nicht mehr. Vorbei sind die Auswirkungen des Kalten Krieges, der auch Afrika in Stücke aufteilte. Hier und da sind die Folgen des Zusammenbruchs des Kommunismus noch fühlbar, der dazu geführt hat, dass keine Hilfeleistungen mehr an Marionettenregime wie zum Beispiel Mobutu gegeben wurden. Mit als Ergebnis etliche bankrotte Staate. Große Teile Afrikas jedoch, vor allem im Westen, kennen mehr Frieden denn je zuvor. Wie auch anderswo, entsteht ein relativ gut ausgebildeter Mittelstand, der großes Interesse an politischer Stabilität hat. Enorme Tragödien, wie in Darfour und Zimbabwe, bleiben nicht mehr, wie zu Gides Zeiten, verborgen. Die Problematik Afrikas ist subtiler und komplexer geworden. Afrika ist kein europäisches Ertragsgebiet mehr, sondern Teil der Weltökonomie. Nach der Unabhängigkeit der früheren Kolonien haben bereits mehr als zwei Generationen die Verantwortung für die Entwicklung ihres Landes getragen, auch wenn noch sehr abhängig von westlichen Beratern und Entwicklungshilfe. Langsam, und noch lange nicht überall, beginnt eine Form von Demokratie und Meinungsfreiheit Fuß zu fassen. Einige afrikanische Staatshäupter, angeführt durch Kofi Anan und Nelson Mandela, sind vollwertige Partner in der multilateralen Politik. Auch wenn der Kontinent auf etlichen Gebieten noch immer eine geringe Rolle spielt, sowie in der Produktion und dem Export von Nahrungsmittelgewächsen (was viel weniger gilt für Kaffee und Blumen), so wird er auf Gebieten wie dem Bergbau schnell wieder ernst genommen. Doch sind die Resultate von 40 Jahren afrikanischer Unabhängigkeit immer noch unberechenbar: neben dem erfolgreichen Ghana steht das zerbrechliche Kenia, und neben den kontinental politischen Ambitionen Südafrikas stehen große Kriminalität und hohe Arbeitslosigkeit. Um bloß nicht von Gides Kongo zu sprechen, wo noch immer Chaos, Armut und Gewalt dominieren. Die optimistisch stimmenden Wachstumszahlen maskieren große Ungleichheit: neben dem Mittelstand der Städte steht die viel größere Klasse der Armen auf dem Land und in den Armenvierteln ohne Wasser, Elektrizität und ärztliche Versorgung, die nichts mehr zu verlieren hat. Die Ereignisse in Kenia zeigen uns, wie verwundbar diese scheinbar demokratischen und offenen Staaten sein können.
Das Echo der Ausbeutung
Es ist verführerisch, unsere Augen vor der afrikanischen Wirklichkeit zu verschließen und uns auf die zweifellose Magie des Kontinents zu beschränken. Auch reicht unsere post-koloniale, jahrzehntelange Haltung von karitativem Paternalismus nicht mehr aus. Noch verlockender ist es, uns vorzuhalten alles komme wohl in Ordnung, oder, was auch nicht undenkbar ist, dass Europa schnell handeln muss um zu vermeiden, dass chinesische und indische Investoren in Afrika die Oberhand bekommen wodurch Europa seine privilegierte Position verliert. Gerade jetzt, da Afrika vielleicht wieder ein Ertragsgebiet werden kann, mit Hilfe seiner eigenen, großenteils korrupten Elite, diese Mal nicht so sehr für den Westen jedoch für den weltweiten Hunger nach Energie und Rohstoffen, müssen wir neu sehen lernen und uns trauen, die Wahrheit zu sagen. Im abjekten Reichtum der afrikanischen Millionäre, die in durch Paramilitären beschützten Villen inmitten aller Armut leben, tönt das Echo der Ausbeutung und Gleichgültigkeit der kolonialen Beamten von Gide. Und in den Handlungen der politischen Klasse, die ethnische Gegensätze ausbeutet und sogar zu Gewalt aufhetzt, tönt das Echo des unmenschlichen Zynismus der Grandes Compagnies von Gide.
Deshalb brauchen wir Schriftsteller, die uns die wirklichen Geschichten Afrikas erzählen. Afrikanische Autoren natürlich, und auch westliche Schriftsteller mit einem ungetrübten Blick um unsere mühsame Verbundenheit mit Afrika fest zu legen. Genau wie Gide begegnen wir dabei unseren eigenen Vorurteilen, unseren eigenen Geschichten und unserer eigenen Geschichte. Wie Gide selber notiert: „Von jetzt an bin ich von einer überwältigenden Klage, ich weiß Dinge, die ich nicht gutheißen kann. Welcher Teufel hat mich nach Afrika geschleppt? Was suchte ich hier? Ich hatte ein ruhiges Leben. Doch jetzt weiß ich es. Ich muss sprechen.“
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Übersetzung a.d. Niederländisch: Isabel Schütz
About Louise Fresco:
Louise O. Fresco’s exciting career has involved more than ten years of fieldwork in tropical countries, travels to over 80 countries, a PhD cum laude in tropical agronomy (Wageningen), chairs and lectureships at prestigious universities such as Wageningen, Uppsala, Louvain and Stanford. She held several leading positions within the FAO of the UN.
The permanent theme of her life is a strong commitment to international development, agriculture and food. She also published seven books (of which three acclaimed novels) and over one hundred scientific articles.
Currently, as a University Professor in Amsterdam, she writes a syndicated newspaper column, is an adviser to the Dutch government on socio-economic policy, science and sustainability, including sea level rise. She serves as a non-executive director of Unilever and on the supervisory board of Rabobank. She is a member of the Trilateral Commission and a vice chair of the Board of the UNU. She has been ranked the fourth most influential woman in The Netherlands in 2008 and is involved in a large number of cultural and social activities. She appears regularly in the media and talked at TED 2009.
www.louiseofresco.com